Ein Alter Schuh

14.02.2014 10:29

 

"Wir standen also in diesem Schaufenster", begann er, "und besahen uns die Welt. Jedenfalls das, was wir durch das Fenster sehen konnten. Damals erschien uns das Treiben da draußen wundersam. Was da alles passierte ...! Nach und nach erschienen alle Bewohner dieses kleinen Dorfes an unserer Scheibe, selbst die kleinen Kinder drückten sich die Nasen platt! Und der Duft von neuem Leder und Leim erfüllte unseren ganzen Laden. Der Schuhmacher war ein Meister seines Fachs. Er arbeitete unermüdlich an neuen Schuhen, reparierte alte, stattete sie mit neuen Sohlen aus, ersetzte gerissene Schnürsenkel und nähte die Risse, die sie sich im rauen Leben auf der Straße zugezogen hatten. Wir beneideten sie, hatten sie doch schon viel von der Welt da draußen gesehen, was uns noch verborgen war. Immer dann, wenn sich die Ladentür öffnete, und die kleine Glocke silberhell über der Tür ertönte, erfüllte uns freudige Erwartung. Vielleicht durften wir nun auch endlich mehr von der Welt sehen ..."                     

 

Es dauerte eine ganze Weile, bis wir das erste Mal aus dem Fenster geholt wurden. Ein dicker Mann mit rotem, verschwitztem Gesicht wollte uns anprobieren. Er hatte kurz von draußen durch das Schaufenster gesehen. Wir Schuhe waren uns einig, es würde ein hartes Los sein, ihm zu dienen. Ausgerechnet meinen Bruder und mich wollte er sehen! Wir mochten ihn vom ersten Augenblick an nicht besonders. Das hatte nichts mit seinem mürrischen Gesicht oder seiner Leibesfülle zu tun! Durch die Schaufensterscheibe hatten wir gesehen, wie er jedes Mal mit den Füßen nach den Hunden und Katzen des Dorfes trat, wenn er ein Tier erwischte. Dabei wollten wir ihn in keinem Fall unterstützen! Ihr kennt doch das Sprichwort, "mitgegangen- mitgefangen!" Aber, wer an seinen Füßen steckte, der würde tun müssen, was der Mann wollte. Da half es nichts, wenn man ihn als Schuh in dem Moment kräftig zwickte, er wurde dadurch nur noch böser. Und weil ihn jedes Paar Schuhe nach kurzer Zeit stach und drückte, suchte er sich immer wieder ein neues aus. Die alten Schuhe, die sich für die Tiere eingesetzt hatten, landeten auf dem Misthaufen.

 

So ist es oft im Leben, wer für seine Überzeugung einsteht, muss leiden, auch, wenn sie absolut richtig ist! Das sollten mein Bruder und ich später noch lernen.

 

Der Mann kam also in den kleinen Laden gepoltert, deutete auf meinem Bruder und mich, und wollte uns anprobieren. Der Schuster kannte ihn sehr genau, er tat einfach, was der unsympathische Mensch mit barscher Stimme verlangte. Nie werde ich den stechenden Geruch vergessen, der von seinen Füßen ausging. Er "stank" uns vom ersten Moment an, sowohl menschlich, als auch durch seine Ausdünstungen. Wie erleichtert waren wir, als der alte Schuster ihm erklärte, wir wären zu klein für seine Füße! Mit einem Blick, der vor Zorn nur so blitzte, sagte der Mann: "Was maßen Sie sich an, meine Schuhgröße zu kennen. Jeder Schuh, den ich bei Ihnen gekauft habe, hat später nicht richtig gepasst. Sie sind überhaupt nicht in der Lage, einen richtigen Schuh zu machen. Ich werde jetzt in die Stadt fahren, dort gibt es bestimmt viele richtige Schuster- nicht solche alten Versager wie Sie. Bei Ihnen ist doch die Zeit schon vor 30 Jahren stehen geblieben. Mich haben Sie hier zum letzten Mal gesehen!" Und mit diesen Worten verließ er den Laden, knallte die unschuldige Tür ins Schloss, das die Scheibe fast herausfiel, und hinterließ uns seine dicke Luft. Aber mit dieser dicken Luft auch die Gewissheit, ihn in unserem Laden wirklich zum letzten Mal gesehen zu haben!

 

Der alte Schuster dachte wohl genauso. Wir konnten ein feines Lächeln in seinem von Falten zerfurchten Gesicht sehen, als er Tür und Fenster öffnete, um auch den letzten Rest dieses unangenehmen Menschen aus dem Laden zu lassen.

 

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir endlich den Menschen gefunden hatten, der wirklich zu uns passte ... dem Wir passten.

 

 

Unser Mensch

 

Es muss so um die Weihnachtszeit gewesen sein. Es hatte gerade begonnen, in dicken Flocken zu schneien, als ein Mann vor dem Schaufenster stehen blieb, der allein durch sein freundliches Gesicht unsere Aufmerksamkeit erregte. Er war schlicht gekleidet, hatte einen grauen Mantel an und hielt einen knorrigen Stock in seiner Hand. Eine eher unauffällige Erscheinung, wäre da nicht eben dieses Gesicht gewesen. Einen so offenen, aufrichtigen Ausdruck hatten wir noch bei keinem anderen Menschen gesehen. Seine Augen leuchteten, als er uns im Schaufenster betrachtete. Schon wollten wir vor freudiger Erwartung fast platzen, da ging er wieder fort, sah sich aber dennoch immer wieder nach uns um. Er war es, kein Zweifel, er war der Mensch, für den wir gemacht worden waren, auf den wir die ganze Zeit gewartet hatten. Aber, würden wir ihm auch passen, fuhr es uns durch den Kopf! Oh weh, und wenn nicht?

Hier machte der Schuh eine kleine Pause.

 

Irgendwie kam mir dieser Mann bekannt vor...! Ich hatte doch während meiner Zeit im Wald auch einen Menschen gesehen, auf den diese Beschreibung passte, als ich im Baum saß, und döste. Könnte es sein, dass der Schuh und ich denselben Mann gesehen hatten, konnte er mit diesem so ruhigen Menschen ein Stück des Weges zusammen gegangen sein?  Meine Neugierde war geweckt. Unruhig zappelte ich hin und her, hielt es kaum noch aus, aber da erzählte der Schuh auch schon weiter.

 

„Ich will dich nicht allzu lange auf die Folter spannen“, erzählte nun der Schuh weiter, „wir passten ihm wie angegossen...war doch klar. Warum er am Schaufenster vorbeiging? Er hatte Schuhe, liebte sie. Er ist ein ganz besonderer Mensch, weißt du. Seine alten Schuhe haben ihn auf seinen Wegen viele Jahre begleitet, waren immer bei ihm, schützend im Regen, wärmend im Schnee, ein ganzes Schuh- Leben lang. Nun waren sie alt geworden, ihre Bestimmung hatte sich erfüllt. Selbst der Schuster konnte ihnen ihre Jugend nicht mehr zurückgeben. Niemand kann die Zeit anhalten, das Leben hinterlässt überall seine Spuren. Und das ist auch gut so, wer seine Aufgabe auf dieser Welt erfüllt hat, der darf dorthin zurück, wo er herkommt...wieder zurück in die Welt.

 

Vielleicht hört sich das, was ich dir gerade erzähle, etwas „kauzig“ an, oh, entschuldige bitte den Ausdruck, ich konnte nicht anders... 

Ich habe die Art und Weise, wie er mit dem Leben, und vor allem mit dem Tod umgeht, erst nach einiger Zeit richtig verstanden. Er ist der Auffassung, dass nichts auf dieser Welt verloren geht. Er sagt immer, „wenn wir die Welt wiegen könnten, hätte sich ihr Gewicht seid ihrer Endstehung nicht sehr verändert. Nichts kam hinzu...und nichts ging fort. Die Welt ist wie ein großer Sack voller Legosteine...es wird immer wieder etwas anderes aus den Steinchen gebaut.

 

Schon ein komischer Gedanke...er sagt immer: „Stell dir vor, ich würde im Wald begraben. Die Bäume würden mit ihren Wurzeln die kleinen Bausteinchen aufnehmen, aus denen ich bestanden habe, sie würden wachsen, Blätter bilden, im Herbst die Blätter wieder verlieren...und so fort. Kleine Tiere könnten auch von meinen „Bausteinchen“ leben. Und die größeren Tiere, Vögel zum Beispiel, ernähren sich wiederum von diesen kleinen Tieren, die nun Teile von mir in sich haben. Wenn so ein kleiner Vogel dann, irgendwann, von seinem Flug in den Süden, nach Afrika zum Beispiel, nicht mehr zurückkommt, weil er zu alt geworden ist...dann verteile ich mich, meine „Bausteine“ irgendwann über die ganze Welt, werde eins mit ihr. Es braucht nur Zeit...ein schöner Gedanke, eins werden...! Niemand stirbt wirklich, weil eben nichts verloren geht. Solange noch jemand ab und zu an dich denkt, bist du noch da, lebst also auch in der Erinnerung weiter. Das ist ein Grund, warum manche Menschen sich anstrengen, bekannt zu werden, denn je mehr Menschen ihn kennen, desto mehr erinnern sich an Ihn, wenn er gestorben ist. Und wer dann ein Denkmal gesetzt bekommt oder ein großes Bauwerk errichtet hat, an den denken die Menschen auch viel länger.“

 

Nun beschleicht mich die Frage, was denn nun mit der Seele ist. Aber auch dafür hat er eine, ihm ganz eigene, Erklärung.

 

„Die Seele ist das, was einen jeden Menschen fühlen lässt, die Kraft, die alle Einzelteile zusammenhält. Was mich die Tropfen eines warmen Sommerregens auf der Haut genauso spüren lässt, wie die Freude über das Lachen eines Kindes oder den Nachthimmel voller Sterne. Wenn ich nun aufhöre zu leben, zu atmen, zu fühlen, dann wird diese Kraft frei, sie verlässt den Körper, um vielleicht einem neugeborenen Menschen  wieder die Fähigkeit zu  fühlen zu geben, ihn bis zu seinem Ende zu begleiten...und so weiter, immer weiter. Wie mit den Bausteinchen auch.“

Eine wirklich ganz eigene Art von Glauben, aber ein schöner Gedanke.

„Jeder Mensch, jedes noch so kleine Ding auf dieser Welt hat seinen Platz, seine Bestimmung. Und wenn seine Aufgabe erfüllt ist, geht´s in eine neue Runde.“

 

Das hat der Schuh so toll erklärt, dass ich mich richtig freue, mehr über diesen Menschen zu hören. Also verabreden wir uns für den nächsten Tag, da will der Schuh von seinen Reisen erzählen, die er mit dem Menschen gemacht hat, die Wege beschreiben, die er mit ihm gegangen ist.